Es wurde schon langsam dunkel, als sich David an einen der Stände für ein Handbrot anstellte und die drängenden Menschenmassen zu ignorieren versuchte. Eine Runde würde er mit diesem verdammten Riesenrad fahren, dann zu den anderen aufbrechen. So sagte er sich, als er in der Kabine mit einer Dame saß, bei der sich Mut und Angst miteinander abwechselten. Hoch oben, mit dem Blick über die Stadt und den Händen in den Jackentaschen, bemerkte David, dass weder Telefon noch Schlüssel zu fühlen waren. Und er sah beides quasi vor sich, neben dem Spiegelschrank liegend. Er musste die Dame beruhigen und gleichzeitig nachdenken, wie nun weiter vorzugehen sei. Das Hochhaus leuchtete, die Tatsache ebenso, dass es Diane wäre, die ihm schnell helfen könnte. Ein Kontakt, den er nicht ohne Hintergrund hat ausfädeln lassen.
Maren Kluge war in ihrem Element. Führte die einkehrenden Gäste durch das Haus, bedankte sich für einen zweiten und gar dritten Weihnachtsbaum, verteilte großzügig Alkohol in leichten Gläsern und Gebäck in gemusterten Schalen und schien trotz all der Hektik ausgeglichen wie selten. Während Tilly nicht zum Bleiben überredet werden musste und den Wächters beim Schmücken unter die Arme griff, hatte Frau vom Felde einen ersten Schwipps und sang mit Valentina und Alexander internationale Adventslieder. Wolter hatte sich mit Anne etwas zurück gezogen. Sie war eingeschlafen und er telefonierte flüsternd mit seiner Tochter, die sich für Silvester anmeldete. Hennes war mit Frietjof und den Reinerts ein Stück durch den Ort gegangen und irritiert von Bierko, der etwas oder jemanden erspäht haben musste. Schließlich standen sie vor einer Gaststätte, aus dessen Eingang der Wirt trat und die Dorffremden auf ein Abendessen einlud. Er hatte unangemessen vorbestellt, da kam ihm der ambivalente Trupp gerade recht. Frietjof machte deutlich, dass das mit etlichen weiteren Freunden zu besprechen sei, aber der Duft aus dem Küchenfenster überzeugte die Vier schnell.
Diane hatte es sich bereits gemütlich gemacht, einen angeblich guten Bekannten neben sich sitzen und sprach mit Maren über Neuigkeiten, die diese glaubhaft abnickte und doch ein Auge auf David warf, der wohl nicht erst seit der Ankunft in Biesenthal mit schlechter Laune zu tun hatte. Er bereute es schon jetzt, sie um Hilfe gebeten zu haben, war aber froh, als sich im Haus herum sprach, dass man auf die Käsesuppe verzichtete und heute noch im Krug einkehren würde. So passierte es tatsächlich. Hungrig blieb niemand, von nüchtern gar nicht zu reden. Der Punsch des Hauses brachte eine Stimmung an die große Tafel unter dem Wildschweinfell, die nur bedingt absehbar war. Die Nacht wurde lang, der Heimweg beschwerlich, der Morgen grau.

Die beiden Frauen müssen sich schon einen Moment betrachten, um sich wiederzuerkennen. Tilly, die sich heimlich davon schleichen wollte, ohne das gemeinsame Frühstück abzuwarten. Frau Gleisen, die mehrfach von Maren eingeladen wurde und sich bis zum Vortag unsicher war, dies auch anzunehmen, nun vor der Tür wartete und die vielen parkenden Autos dabei zählte.
“Frau Gleisen, mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet. Guten Morgen!”
“Ich selbst nicht. Doch Sie wissen sicher, warum ich dann doch kommen musste.”
“Ja, er ist hier überall. Drinnen wird noch geschlafen, aber ich hatte das Gefühl, der Doktor wäre im Haus unterwegs. Entschuldigen Sie, jetzt wo ich Sie sehe, fühle ich mich nochmal so schuldig. Doch, doch, das ist das passende Wort. Ich habe ihn verwirrt, mindestens.”
“Bitte seien Sie mir nicht böse, doch Sie haben keinerlei Anteil an Doktor Nebels Tod, so wenig wie ich oder sein gräßlicher Bruder. Es wird allmählich kalt hier. Sie wollten gerade fahren, nicht? Lassen Sie uns Kaffee kochen, Sie wollen ja doch auch bleiben.”
Barbara hatte ihre Schwester angetippt und um etwas Decke gebeten. Der Vorhang hatte mehrere Löcher und legte den Tag nach und nach frei. Die Reinerts fühlten sich elend, eine der beiden hatte sich im Morgengrauen einen Eimer gesucht und parat gestellt. Nun gab es bloß noch schwere Köpfe und ein ungutes Gefühl, das Barbara erwachen ließ.
“Ich habe von deinem Hans geträumt. Und nicht nur das, ihr habt euch getroffen, immer wieder.”
“Wovon redest du da? Wir treffen uns nach wie vor, ganz egal, was du träumst.”
“Ist das so? Daran war nicht zu denken, so wie du neulich von ihm gesprochen hast.”
“Wir fühlen uns wohl miteinander, fassen uns natürlich nicht mehr an und erwarten nichts. Aber Hans ist ein Guter, nicht weniger seltsam als du und ich. Und nun drehen wir uns nochmal zur Seite und versuchen zu schlafen.”
Diane war hellwach, erkundete den Kühlschrank und hatte ihre Begleitung zum Rauchen geschickt. Da betrat David die Küche, setzte die Stirn in Falten und spürte eine Abneigung, die nicht nur von der Nacht im Krug herrührte. Wie selbstsicher sie durch das Zimmer spazierte. Mit einem Mal fielen ihm die Sätze wieder ein, die nach dem Verabschieden vom Wirt fielen. Er dachte an die gehässige Stimmung, die Diane nicht nur beim Thema Matthew Porter verbreitete, besonders erschrak ihn der Anschein, sie hätte geradezu darauf gewartet, so offen zu sprechen.
“Du bleibst noch länger? Deine Begleitung wirkt etwas gelangweilt.”
“Das ist sein typischer Blick, er ist da nicht so abwechslungsreich. Gut, dass du ihn nicht meinen Freund nennst.”
“Sagt dir eigentlich gelegentlich jemand, wie unangenehm du sein kannst? Nein, nein, so ist es falsch ausgedrückt. Diane, ich will nicht wissen, wie du über mich oder uns alle hier sprichst, wenn der Typ da draußen nicht mal zehn Meter von uns entfernt steht.”
“Es ist Masche, mehr nicht. Ich suche Honig.”
“Das ist eine verdammte Scheißmasche, die Menschen nicht verdient haben. Ich kann mich sehr wohl noch an gestern Nacht erinnern, ach, an das ganze letzte Jahr. Du hast Matthew behandelt wie Dreck und dich daran ergötzt, wie es ihm ergangen ist. So plötzlich wie du damals da warst, kannst du bitte einfach wieder verschwinden. Ich fühle mich jeden Tag schlecht, vermisse Matthew so unglaublich. Bei dir gibt es da nichts.”
“Wo war diese Art all die Zeit? Das hätte dich schnell voran gebracht, beruflich, privat, nur für dich. Du hast natürlich recht, ich gebe nichts auf Matthew und den ein oder anderen, der sich mit seinem Leben immer und ewig schwer tut, es nervt so. Vielleicht bin ich in fünf Minuten weg und du wirst dir irgendwann eingestehen, dass ich dir mehr gebracht habe, dich verändert habe, wie es diese Truppe hier nie getan hat.”
“Du gehst. Ich spreche für uns, ungefragt, aber überzeugt, geh jetzt.”
Wolter hatte auf einer der Treppenstufen Platz genommen, einige vorbei laufenden Gesichter gegrüßt und war doch in sich gekehrt. Seine Haare waren noch nass vom Duschen, doch er wollte das Bad freigeben.
“Hier bist du, ich hatte dich gesucht.”
“Tilde, ich habe gestern mit Norwegen telefoniert.”
“Sehr gut, und was gab es Neues, habt ihr etwas verabredet?”
“Ja, das Gespräch war recht kurz. Ich kann nicht viel sagen, ich weiß es nicht.”